KAIS BUCH - HART WIE MARMELADE

LESEPROBE

Der Kaufhaussturm von Hagen

Gleich nebenan klaut einer Schuhe
Ein kleiner Aufstand findet immer statt

Es nieselte vom grauen Himmel über der Stadt, als wir vom Reggae-Büro hinter der „Sumpfblüte“ zu unserer ersten Autogrammstunde aufbrachen. Die Idee dazu hatte der Leiter der Plattenabteilung von Quelle gehabt, jenem riesigen Kaufhausbunker, der die frisch betonierte City erst richtig gemütlich machte. Der gute Mann hatte nämlich registriert, daß sich „Ihre Größten Erfolge“, das monatelang bestenfalls vereinzelt gegangen war, plötzlich zu verkaufen begann. Es war das „Wunder an der Volme“: Hagens Teenager hatten Extrabreit entdeckt.
Wie das nun gekommen war, war gar nicht so leicht auszumachen. In Presse und Radio geschweige denn im Fernsehen fanden wir schließlich nicht statt, und unsere lokale Bekanntheit hatte sich bislang eher auf die „Szene“ beschränkt. Aber anscheinend begann unsere plakative und ziemlich phantasievolle Art, uns mit Sprüchen, Aufklebern und auffälliger Optik in Szene zu setzen und überall zu spielen, wo es, wie es hieß „eine Steckdose gab“, Früchte zu tragen. Ein verborgenes Netzwerk sorgte dafür, daß der aufsässigere und feieraffine Teil der Hagener Vorstadtjugend Extrabreit als seine Band und „Ihre Größten Erfolge“ als seine Platte adoptierte.
Trotz solcher Zeichen hatten wir keinerlei Vorstellung davon, was uns erwartete. Schon lange vor Beginn der Veranstaltung quetschten wir uns in unser neues Bandfahrzeug, einen mausgrauen Opel Rekord 1900, um vor Ort die Lage zu peilen. Die ziemlich betagte Karre hatte den Spitznamen „Onkel Erich“ erhalten, weil Kleinkriegs Onkel schon vor Urzeiten auf das Modell geschworen hatte.

Onkel Erich rollte langsam am Kaufhaus Quelle vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo sich der Eingang befand, standen bereits eine Stunde vor dem offiziellen Beginn Trauben von Kids herum. In meinem Magen breitete sich jenes flaue, aber irgendwie auch angenehme Gefühl aus, das ich stets hatte, wenn ich interessantes Neuland betrat, ein aufputschender Cocktail aus Neugier und Nervosität.
Am Abend zuvor hatten wir noch in heimeliger Bastelarbeit einige Kartons unserer neuen Autogrammkarten unterschrieben, die, wie wir hofften, die beginnende Romanze zwischen uns und Hagens Jugend weiter befeuern würden. Unter einem gerasterten Himmel, über den bedrohlich drei Flugzeugsilhouetten zogen, war ich darauf mit gesträubten Haaren und gefletschten Zähnen abgebildet, flankiert von vier Paßfotos, von denen Kleinkrieg, Rolf, Hunter und Public den Betrachter mit mürrischem Gesichtsausdruck anstarrten.
Als wir zum vereinbarten Zeitpunkt am Hintereingang des Kaufhauses eintrafen, erwartete uns ein sichtlich angespannter Quelle-Mann mit Goldrandbrille und Rainer-Barzel-Frisur. Wie wir erfuhren, waren Plattenabteilung und Erdgeschoß des Hauses bereits schwarz vor Teenies, und von draußen drängten immer noch ganze Schulklassen nach. Das Rumoren der Menge war bis in den Verwaltungstrakt zu hören.
Rainer Barzel öffnete die Stahltür zum Verkaufsbereich und wir betraten die Manege. Eine Wand aus Lärm und dem Geruch regennasser Kleidung stand vor uns, und wir glotzten wie erstarrt auf die brodelnde Menge von vielleicht achthundert oder tausend Kids, die jetzt richtig auf Touren kam. Als man uns erspähte, ging das Rufen und Schnattern in einen einzigen markerschütternden Schrei über. Wie sich herausstellen sollte, war es das Brüllen eines Raubtiers.

Angestachelt vom Aufruhr und begierig, der Menge zu geben, was sie verlangte, kletterten wir auf das Podium und dann gleich auf den dort stehenden Tisch, um es von oben Autogrammkarten regnen zu lassen: Der Vorrat war schnell verbraucht, doch das Volk schrie nach mehr. Zu Extrabreit-Sprechchören wurden uns nun Plattenhüllen, Taschen, Jacken, Schulhefte und Personalausweise zum Unterschreiben entgegengehalten. Das Gewühl wurde immer unübersichtlicher. Dann sah ich, wie zwei vielleicht sechzehnjährige Jungs, typische Mopedfahrer in zu knappen Lederjacken, sich an einem der Ständer mit „Ihre Größten Erfolge“ bedienten und dann in der Menge untertauchten. Das hatte offenbar nicht nur ich bemerkt, denn das Beispiel machte Schule. Mit verblüffender Geschwindigkeit nahm das interessante psychologische Phänomen der Entfesselung in der Masse Gestalt an. Immer mehr Hände griffen inmitten des wachsenden Chaos zum Objekt der Begierde, das schnell unter Winterjacken und in Jutetaschen verstaut wurde.
Diese Entwicklung entging auch dem Abteilungsleiter nicht, der ebensowenig wie wir mit einem derartigen Auflauf gerechnet hatte und sich deshalb nicht weiter um Sicherheitskräfte bemüht hatte. Mit wehendem Schlips stürzte er sich samt einem verpickelten Assistenten ins Gewühl, um den Plünderungen Einhalt zu gebieten. Der Mann verschätzte sich komplett.
Mit rudernden Armen wurden er und sein Untergebener von der Hydra verschluckt und trieben unter dem Gejohle der ekstatischen Menge hilflos in Richtung Ausgang. Nun fielen auch die letzten Hemmungen. Nachdem die Ständer und Regalfächer mit den Extrabreit-Platten geleert waren, ging es an die Kartons mit der noch nicht ausgepackten Ware, die seitlich vom Podium gestapelt waren, und danach auch an die anderen Erzeugnisse der Entertainment-Industrie: Kim Wilde, Shakin‘ Stevens und sogar Pink Floyd – nichts war mehr sicher vor der Raserei der minderjährigen Plünderer.

Es war unfaßbar. Wie hypnotisiert starrte ich auf die kleptomanische Orgie, die sich zu unseren Füßen abspielte, während es gleichzeitig immer heftiger auch an uns selbst herumgrabschte und -zupfte. Ich hatte bereits meinen Schal in den Rachen des Ungeheuers geworfen, als eine kleine Hand die Tasche meines Second-Hand-Trenchcoats zerriß. Das war das Signal zum Rückzug. Wir verließen fluchtartig das Podium, stürzten zu der rettenden Stahltür, durch die man in den Bürotrakt gelangte, und ließen sie hinter uns zufallen. Dahinter vernahm man immer noch das Rasen der Menge, und schon ertönte das Geräusch hämmernder Fäuste an der Tür, begleitet von flehentlichen Rufen: „Ihr müßt noch in meinen Perso reinschreiben!“ Oder: „Auf meinen Arm! Bitte! Bitteeeee!“
Wir ließen die Tür lieber zu und gingen zurück in das Büro des Abteilungsleiters, dessen Schicksal noch ungeklärt war. Ich stand etwas außer Atem neben dem kichernden und wie stets nach Lagerfeld riechenden Hunter und steckte mir mit feuchten Händen eine Zigarette an. Rolf, der Chefmotoriker, rannte im Zimmer auf und ab, griff sich ins Haar und murmelte immer nur „Sagenhaft, sagenhaft“, während Kleinkrieg nur einmal „Tja ...“ sagte und mit mir einen bedeutungsschweren Blick tauschte. Public machte sich mit glänzenden Augen eine Cola auf.
Wenig später schaffte es auch der Abteilungsleiter zurück ins Büro. Der unfreiwillige Initiator des anarchischen Spektakels hatte inzwischen seinen Betonscheitel, seine goldgefaßte Brille und einen Hemdsärmel eingebüßt, schien aber ansonsten unversehrt. Mit flackernden Augen wählte er 110 und forderte die Staatsmacht an, bevor er, immer noch schwer atmend, neben seinem Schreibtisch in die Hocke ging. Unsere Blicke trafen sich. Während aus dem seinen noch Ungläubigkeit und Entsetzen sprachen, war ich von einer merkwürdigen, milden Ruhe durchströmt. Ich lächelte ihn an.
Die drei Streifenwagenbesatzungen, die wenig später am Ort des Geschehens eintrafen, fanden nur noch die Überreste eines Festmahls, dessen Gäste sich längst aus dem Staub gemacht hatten. Der Fußboden war übersät mit Fetzen unserer Autogrammkarten, Stücken zerrissener Verpackungskartons und dem einen oder anderen Handschuh. In den Plattenständern und –regalen herrschte eine unwirkliche Leere.

(c) 2007 Aufbau Verlag, Berlin. Veröffentlichung, auch auszgsweise, nur mit Genehmigung.