Die Schönheit des Verfalls (I)

Anfang Oktober waren M und ich mit unseren Freunden Labbi und Dorthe ein paar Tage im Ostharz zum Wandern. Basislager war Schierke am Fuss des Brockens, ein hübsches langgestrecktes Dorf, das sich zu beiden Seiten der Bode, einem ungebändigt rauschenden Flüsschen, an die Berghänge lehnt. Die Gegend rundum ist urwüchsig und verwunschen, steile Berghänge, die mit unzähligen, tonnenschweren Granitfelsen übersät sind, um die herum sich in den bizarrsten Formen die Wurzeln der Fichten winden, glasklare, regelrecht duftende, schnell fliessende Bäche, winzige Wasserfälle und heideartige Lichtungen, fast zugewachsene, uralte Forellenteiche.

Man spürt und sieht, dass diese Landschaft jahrzehntelang kaum betreten und geformt wurde, sehr viel weniger als jetzt, wo das Gebiet Nationalpark ist.
Denn nur ein paar Kilometer von hier entfernt verlief über 40 Jahre lang die zähnefletschende, innerdeutsche Grenze. Das Dorf und seine Umgebung lagen innerhalb der 5 km-Sperrzone und waren für DDR-Normalsterbliche tabu, auch Verwandte, die zu Besuch kommen wollten, brauchten einen speziellen Passierschein. Unerreichbar war auch der Brocken, mythenumwehter Blocksberg und deutschester aller Berge. Denn da oben unterhielten die Russen eine riesige Horchstation, von der aus man den westdeutschen Telefonverkehr bis nach Frankfurt am Main abhören konnte.

Überall stösst man noch auf Spuren dieser Zeit. Da ist der nur zum Teil zugewucherte, betonierte Patrouillenweg, auf dem einst DDR-Grenztruppen mit Autos, Hunden und Skiern unterwegs waren, um ?Grenzdurchbrecher? mit allen Mitteln am Exodus zu hindern. Ein halbverfallener, minimalistisch gebauter Beobachtungsturm aus Beton, dessen Rundum-Glasfront längst zerborsten ist. Auf dem Dach krümmen sich die Reste grosser Antennen.

Es sind die Relikte einer versunkenen, seltsamen Weltordnung, einer Ordnung, die völlig absurd war und doch in sich wieder so logisch, dass sie mir in den ersten dreissig Jahren meines Lebens beinahe als normal, als gegeben und als dauerhaft erschien.

Wie sehr die Zeit inzwischen über die ganz besondere Kultur des Arbeiter- und Bauernstaats hinweggefräst ist, zeigt sich in Schierke aber vor allem an zwei Gebäuden, die auf eine geradezu symbolische Art verfallen. Es sind zwei ehemalige Hotel- und Erholungs-Paläste der linientreuen Genossen und der regimenahen Prominenz, die sich hier ? mit entsprechenden Passierscheinen ausgestattet ? fern vom Volk und von ihrem grauen DDR-Alltag erholte.

Eines davon ist das ?Hotel Heinrich Heine?, zu DDR-Zeiten das erste Haus am Platz, ein riesiger, mehrflügeliger Kasten, schon zu Kaisers Zeiten erbaut, als Schierke ein luxuriöser Wintersportort war und als ?St. Moritz des Nordens? gepriesen wurde.

Stammgast war Karl-Eduard von Schnitzler, die schmächtige, intellektuelle Giftspritze des DDR-Staatsfernsehens. In seinem “Schwarzen Kanal” malte er die kapitalistische Hölle jenseits der Grenze so schön schaurig aus wie Dante sein Inferno, privat aber hatte er, wie man munkelte, die Finger allzu gern im Mustopf der westlichen Konsumgüter, zu denen er natürlich privilegierten Zugang hatte. Die wilde Propaganda-Schlammschlacht, die er sich mit seinem westlichen Gegenstück Gerhard Löwenthal, dem erzrechten Einpeitscher des ?ZDF-Magazins? über Jahre lieferte, ist mir noch gut in Erinnerung.

Das Gebäude, in dem Schnitzler einst die Westspirituosen fliessen und die ostdeutschen Puppen tanzen liess, verrottet nun seit gut 20 Jahren. Die Ruine ist umzäunt, aber in der Nähe des Haupteingangs klafft ein Durchlass, wie eine Einladung. Wir lassen uns nicht lange bitten.

Teile der hinteren Fassade sind eingestürzt, das Treppenhaus hängt in der Luft wie in zerbombten Häusern des 2. Weltkriegs. Im Hof uralte Bierkästen und zerschlissene, regenfeuchte Sessel im offenbar unzerstörbaren DDR-Gelb-Beige. Beim Blick durch die fast blinde Scheibe des Eingangsportals erkennt man im Schummerlicht die altmodische, vierflügelige Drehtür, durch die es ins Foyer geht, verstaubt und für immer in Bewegungslosigkeit erstarrt. Der Eingang selbst ist wie die meisten Fenster mit Brettern vernagelt, aber ein Stück weiter gibt es dann plötzlich ein ebenerdiges, scheibenloses Fenster, durch das man einsteigen kann ? links daneben ein einziges Graffito: ?ANGST??

M und ich klettern rein, Labbi und Dorthe verzichten lieber und warten draussen. Ein leeres, kleines Zimmer, die Tapeten halb abgerissen, alte Reifen, ein brillenloses Klo. In der Ecke das Skelett eines grösseren Vogels, vermutlich einer Elster. Ein paar staubige Federreste kleben noch daran. Dann ein langer Zimmergang, zu dunkel, um weiter vorzudringen. Wir haben leider keine Taschenlampe und die Handys funzeln viel zu schwach. Als wir gerade wieder durch das Fenster steigen, plötzlich ein lautes, knackendes Geräusch im Inneren des Hauses. Die Mädels kreischen filmreif, Labbi versteift sich merklich und ich spüre eine Art elektrischen Schlag. Drinnen herrscht wieder Stille. Sicher nichts Besonderes, in dem Riesenkasten ist viel Holz verbaut, das abeitet halt. Und natürlich wird es da drin Marder geben und vielleicht Waschbären, die sich hier geradezu explosionsartig vermehren und die Mülltonnen der Schierker plündern.

Im Hof an der Rückseite eine offene Kellertür, durch die man in ein Treppenhaus sieht. An der Wand ein Schild mit abwärts zeigendem Pfeil: ?Zur Sauna?. Jetzt sehe ich Karl-Eduard deutlich vor mir, wie er mit seiner dünnen Figur im KaDeWe-Bademantel und Adidas-Schlappen zur gemischten Schwitz-Party in den Keller strebt. Wie uns Schierker Eingeborene erklärt hatten, war das promille- und hormongeschwängerte Treiben im ?Hotel Heinrich Heine? selbst in der alles andere als prüden DDR legendär.
Es ist seltsam: Man sieht, hört und riecht die DDR sofort, wenn man darauf stösst. Wie bei den grünen Leuchtbuchstaben über dem hinteren Eingang und dem dazugehörigen Tannenbaum-Logo, im Stil dem DDR-Ampelmännchen irgendwie ähnlich.

Einen Kilometer entfernt, am gegenüberliegenden Ufer der Bode liegt eine zweite, kapitale DDR-Ruine: Das ?FDGB-Erholungsheim Hermann Duncker? , wie die tote Neonschrift anzeigt. Die grosse Steintreppe ist zerborsten, wirkt geradezu wie in Stücke gehauen, das Holzgeländer fault unter Moosflecken. Aber hier sind alle Fenster und Eingänge sorgfältig mit Brettern vernagelt, es gibt anscheinend kein Schlupfloch hinein.

Ich stelle fest, dass die Aura solcher verlassener Gebäude einen ungeheuren Reiz auf mich ausübt. Die unheimliche Schönheit des Verfalls hat etwas ungeheuer Tiefgründiges, Tröstliches, eine schier grenzenlose Gewissheit von Vergänglichkeit. Es gibt nichts Wahreres.

Am nächsten Tag sind wir dann rauf zum Brocken übers Eckerloch. Steil, felsig, Regen. Aber dann on the top erst der eigentliche Regensturm. Wir werden nass bis auf die Unterhosen, erwischen aber glücklicherweise oben direkt die Harzbahn, die uns wieder ins Tal bringt. Das Abteil gerammelt voll, die Fenster beschlagen, die Leute üben sich in Galgenhumor. Ein Paar, das nebeneinander sitzt, schreibt sich gegenseitig SMSen. Gekicher. Dorthe verteilt scheibchenweise Hirschsalami. Abends bei viel Vino vor dem prasselnden Kamin, der hervorragend zieht und eine knallige, frontale Hitze verbreitet. Ich schnappe immer wieder mal kühle Nachtluft am Fenster, unter dem der Fluss rauscht.

9 Kommentare zu „Die Schönheit des Verfalls (I)“

  1. Steffi says:

    Cool, du warst in meiner alten Heimat…
    Roadie-Steffi (Berlin)

  2. Peter Geiß says:

    Sehr eindringlich geschrieben, glaubte fast, auch dort gewesen zu sein. Ich hoffe auf mehr.

  3. Martin says:

    orte die ich kenne, besuchte, manchmal auch mehrmals & fotografierte…..

    wusste gar nicht das “extrabreit ” noch aktiv ist ….aber toll so 🙂

    mfg aus Niedersachsen 🙂

  4. Thorsten says:

    Sehr lebendiger Bericht. Klasse! Wenn die Genossen sich an das gehalten hätten, was sie selbst gepredigt, bzw. von den Landsmännern und Frauen verlangt haben…
    Gruß thorsten

  5. sonja Becker says:

    Danke!

  6. Volker says:

    Hallo Kai!

    Hier schreibt ein Extrabreit-Fan der ersten Stunde – und die Liebe ist nie erloschen (Karte für den 30.12. liegt bereit).
    Freue mich, dass Du die Osterstraßen-Papiere wieder aufleben lässt. Und dann gleich mit so einer brilliant geschriebenen Story… Richtig gut! In Schierke und Umgebung war ich auch schon einige Male. Der Brocken ist ebenfalls bei jedem Wetter bestiegen worden. Die Stimmung in der Gegend bringst Du allerbestens auf den Punkt. Ich finde, der gesamte Harz (auch der Westteil) verströmt eine charmante Morbidität. Solltest Du öfters auf Reisen gehen, mach was draus! Reiseberichte dieser Art gäben ein klasse Buch ab. Denke da gerade an Helge Timmerberg… Das kannst Du noch besser als der!
    Allerherzlichste Grüße
    Volker aus Stade

  7. admin says:

    Hey ho,

    freue mich über eure Kommentare! Das ist für mich auch wie Benzin zum Schreiben!

    k

  8. lektorieren says:

    Ich schreibe selber auch gerne – aber im Internet findet man soooo selten wirklich mitreissende Texte! Deiner war aber wirklich erste Sahne. Weiter so 🙂

  9. Niels says:

    Hey Señore 🙂
    genau den Artikel hab ich neulich verzweifelt gesucht als ich (auch mit einer M : ) ebenfalls im Ostharz war. Konnte mich dran erinnern, dass Du von einem verlassenen Hotel geschrieben hast – Auf solche Bauten stehe ich sehr!
    Darauf, dass dieser Blog allerdings direkt bei den breiten abgelegt ist, hatte ich nicht auf dem Schirm und über google findet man leider nur die Osterstrassen-Papiere v.2001. Anyway. Es war auch ohne den Besuch im alten ?Hotel Heinrich Heine? sehr schön im goldenen Herbst im Harz 🙂 und so habe ich einen Grund nochmal hinzufahren.
    Viele Grüße,
    Niels

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